Interview mit Gunhild Böth (MdL)

„Sowas wirft mich nicht mehr um“.

Gunhild Böth ist von Anfang an bei basta! dabei. Als Stadtverordnete der einzigen Partei, die das Spardiktat von Kämmerer Slawig und Oberbürgermeister Jung von Anfang an in Gänze abgelehnt hat, ist sie für uns eine verlässliche Bündnispartnerin bei unserer Arbeit und bei unseren Aktionen. Als sie vor drei Wochen für ihre Partei, die LINKE, in den Landtag von NRW gewählt wurde, haben wir uns deshalb darüber gefreut, auch wenn basta! sich ausdrücklich nicht als Parteiveranstaltung versteht. Was im Anschluss an die Wahl passierte, war da noch nicht vorherzusehen.

Nachdem DIE LINKE und mit ihr Gunhild Böth auf einem sicheren Listenplatz in den Landtag eingezogen waren, begann – ausgelöst durch einen kurzen Beitrag des „politischen Magazins Report Mainz“ in der ARD – eine mediale Hetzjagd auf einzelne Abgeordnete der erstmals im Landtag vertretenen Partei. Erst mit dem Scheitern der Sondierungsgespräche zwischen SPD und Grünen und der LINKEN ließ das hysterische Kesseltreiben gegen die neuen Abgeordneten etwas nach. Während dem Mitglied der „Roten Hilfe“, Anna Conrads, eine Nähe zur RAF angehängt wurde, wurde Gunhild Böth auf einen einzelnen Satz eines Mini-Interviews reduziert, in dem sie die DDR nicht in Gänze als Unrechtsstaat bezeichnen wollte. Ohne nochmals mit ihr zu sprechen, diente der eine Satz in Artikeln aller bürgerlichen Zeitungen und in mehreren anderen Fernsehsendungen als Grundlage dafür, dem NRW-Landesverband der LINKEN die Demokratiefähigkeit abzusprechen. Einen Höhepunkt erreichte die Kampagne, als die Lokalzeitung WZ den Arbeitgeber von Gunhild Böth ins Spiel brachte – ein Gymnasium in Wuppertal, an dem Gunhild Böth bis zur Wahl zwölf Jahre lang unterrichtet hatte.

Für die kurze Zeit zwischen Wahlergebnis und Scheitern der Sondierung zwischen den drei Parteien schien es, als würde Nordrhein-Westfalen kein Thema so sehr unter den Nägeln brennen, wie persönliche Ansichten zu einem Land, das vor zwanzig Jahren einmal existierte und das mit NRW nie eine gemeinsame Grenze gehabt hat. Letztlich diente das Verhältnis zum vorgeblichen Demokratie-Fetisch „Deutsche Demokratische Republik“ dann als Vorwand für SPD und Grüne, nicht einmal Möglichkeiten zu einem Politikwechsel in NRW auszuloten. Ergänzt um den bizarren Vorwurf, die LINKE könne nicht für Ruhe an ihrer Basis garantieren – (etwas was die alte SED sicherlich jederzeit gekonnt hätte) – wurde so aus einem einzelnen Satz eines Kurzinterviews in der Barmer Fussgängerzone ein Argumentationshammer, der SPD und Grünen ermöglichte an einer „bürgerlichen Regierung“ unter Beteiligung der FDP und/oder der CDU zu arbeiten.

Nachdem sich die Aufregungen um die skandalisierten Aussagen und die gescheiterte Regierungsoption für die LINKE gelegt haben, haben wir uns mit Gunhild Böth getroffen. Wir wollten erfahren, wie das mit dem Interview war, wie die Sondierungsgespräche waren und wie unsere basta!-Mitstreiterin die Situation in Wuppertal nach der Wahl in NRW jetzt einschätzt. Wir trafen eine gut gelaunte und durchaus optimistische Gunhild Böth, die trotz der gescheiterten Sondierungsgepräche noch immer auf eine sich verändernde SPD setzt und auch für die Wuppertaler Haushaltsprobleme durchaus mögliche Lösungsansätze sieht, egal wie die neue Landesregierung am Ende aussieht.

Mit Gunhild unterhielten sich Karin und Frank.

Report Mainz ist angefressen – die LINKE im Landtag!
Da muss sich doch ‘was machen lassen?

„…anscheinend muss man solche Tricks einsetzen.“

[K/F] Wie ist der zum bundesweit skandalisierten Medienereignis gewordene Beitrag von „Report Mainz“ eigentlich zustandegekommen?

[Gunhild Böth] Am Samstag vor der Wahl hat mich „Report Mainz“ angerufen und einen Bericht über unseren Wahlkampf angekündigt. Ich habe ihnen zugesagt, dass sie mir dazu an einem der Infostände des Tages ein paar Fragen stellen können. So kam dann in Barmen ein einzelner Mensch mit einer Kamera vorbei und fragte nach unserem Wahlkampf. Schon die zweite Frage war dann, ob ich glaube, dass mir Wähler und Wählerinnen vertrauen sollen, obwohl ich doch zehn Jahre lang DKP-Mitglied gewesen bin.

Wusstest du in dem Moment, als du den inzwischen berüchtigten Satz („…nicht in toto ein Unrechtsstaat…“) gesagt hast, was dir bevorstehen würde?

Naja. Den Satz habe ich ja so gesagt. Ich bin aber direkt im nächsten Satz darauf eingegangen, dass ich auch damals schon die Mauer abgelehnt habe. Ich habe auch von Unrecht in der DDR gesprochen, doch das haben sie alles rausgeschnitten. Übrig blieb nur der erste Satz. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Vor einiger Zeit ist das aber der Christel Wegner aus der DKP in Niedersachsen auch schon so gegangen, als „Panorama“ ein Interview in ähnlicher Weise zurechtmontiert hat?

Vielleicht war ich da auch etwas naiv, doch mit einer solchen Verfälschung konnte ich nicht rechnen. Ich habe mich allerdings auch nicht an alles gehalten, was man bei einem solchen Medientermin beachten sollte, etwa dass man Sätze am Besten so verschachtelt, dass sie nicht auseinandergeschnitten werden können. Die Sätze, die dabei herauskommen, sind mir eigentlich zu verschraubt. Aber anscheinend muss man solche Tricks einsetzen.

Wie schlimm waren die nachfolgenden Angriffe für dich persönlich, speziell auch, dass die Schule, an der du unterrichtet hast, miteinbezogen worden ist?

Da war ich schon überrascht. Andreas Lukesch von der WZ hat mich nämlich angerufen, was mich erstaunte, sonst ignoriert der uns im Rat und in den Ausschüssen immer komplett… Er rief jedenfalls an und fragte mich, was ich zu dem Brief meiner Schule sagen würde. Ich wusste aber gar nichts von einem Brief. Den Brief, der ihm vorlag, hat er mir dann vorgelesen, was sehr interessant war. Dieser Brief, der offenbar ungefragt an die Presse geschickt worden ist, unterschied sich nämlich vom später auf der Homepage der Schule veröffentlichten Brief in einem wichtigen Detail.

In der Version, die der WZ vorlag, stand im letzten Satz, ich hätte mich zur DDR geäußert und wäre jetzt Landtagsabgeodnete, „und aus diesem Grunde unterrichtet sie nicht mehr an der Schule“. Das war wohl absichtsvoll missverständlich formuliert – und da wurde dann daraus gemacht, der Schulleiter hätte mich vom Dienst suspendiert. Was natürlich nicht stimmt.

Du wirkst jetzt sehr cool in Bezug auf die schnelle „Berühmtheit“, die ja etwas von einem medialen Bauernopfer hatte, das gebracht werden musste, um eine Beteiligung der LINKEN an der Landesregierung zu verhindern. Das ist ja etwas, was man eigentlich niemandem wünscht.

Ich war ja nicht die einzige, mit der sie soetwas gemacht haben. Es gab ja auch persönlich diskreditierende Vorwürfe gegen eine Abgeordnete, die Mitglied der „Roten Hilfe“ ist. Diese Kampagne habe ich eigentlich als schlimmer empfunden. Ich habe Anna, die das ziemlich getroffen hat, zur Ruhe geraten. Das legt sich schnell wieder. Ich habe in meinem politischen Leben schon Ähnliches erlebt. Mit sowas musste man hier schon immer rechnen, wenn man sich politisch engagiert hat. Ich habe da genügend Erfahrungen…

Was meinst du?

Zum Beispiel bin ja 1978 aus der SPD ausgeschlossen worden. Als ich am Ende meines Studiums von Bonn nach Wuppertal kam, weil ich dort kein Examen machen durfte, hier aber einen Professor fand, der mich schließlich zugelassen hat, war ich im Sozialdemokratischer Hochschulbund (SHB) aktiv. Ich war natürlich auch in der SPD und lustigerweise im Ortsverein von Johannes Rau. Ich bin da sogar im Ortsvereinsvorstand gewesen. Als sich in Wuppertal dann eine Bürgerinitiative gegen die damaligen Berufsverbote gegründet hat, habe ich dafür gesorgt, dass mein – und Johannes Raus – Ortsverein und die Jusos diese Bürgerinitiative sehr unterstützt haben. Das hat natürlich vielen nicht gepasst. Einige Zeit später gewann ich eine Kampfabstimmung um den Juso-Vorsitz. Die war an einem Samstagabend.

Am Montagmorgen danach wurde ich dann über das Parteiausschlussverfahren informiert. Die Begründung lautete: Wegen Zusammenarbeit mit Kommunisten. Sowas war damals nicht komisch. Ich weiß z.B. aus sicherer Quelle, dass die SPD – als Partei – damals im Rahmen meines Ausschlussverfahrens nach meiner Verfassungsschutzakte gesucht hat… Im Zusammenhang mit dieser Geschichte wurde ich natürlich auch damals in der Presse als Linksradikale abgestempelt. Ich kenne das alles also schon lange. Sowas wirft mich nicht mehr um.

Meinst du nicht, dass mediale Kampagnen heute eine ganz andere Wucht entwickeln als vor dreißig Jahren?

Ja, das hat mit der Geschwindigkeit zu tun. Es geht zwar schnell wieder vorbei, aber es entsteht auch schneller. inzwischen ist man innerhalb von drei Tagen bundesweit in den Schlagzeilen. Außerdem habe ich auch den Eindruck, dass dieser Medienhype inzwischen vor allem auch unsere Politiker zu Aktionismus antreibt. Man muss ja nicht immer etwas sagen, wenn man einen Raum verlässt, auch wenn da dreißig Medienmenschen vor der Tür auf einen warten. Manchmal hat sich die Welt ja gar nicht groß verändert während der letzten Stunden. Doch die Medien brauchen immer etwas Neues. Manchmal beziehen sie sich einfach aufeinander, ziehen ihre eigenen, neuen Schlüsse daraus und haben zunehmend den Eindruck, sie würden Politik machen.

Wie war das bei den Sondierungsgesprächen? Hatte das mediale Ausschlachten des „Report“-Interviews, deiner Meinung nach, Einfluss auf den Verlauf der Sondierung?

Manchmal denke ich, der „Report Mainz“-Beitrag war eine Auftragsarbeit der SPD. (lacht) Sie haben das zumindest begierig aufgenommen. Wenn wir Anna Conrads zur Vizepräsidentin des Landtages vorgeschlagen hätten, hätten wir eben statt zweieinhalb Stunden DDR zweieinhalb Stunden Rote Hilfe und RAF-Sympathisanten drangehabt. Dann wäre es daran gescheitert.

Eine satirische Titanic-Aktion wird zu ernstgenommener Propaganda…

„Nach einer Stunde sind sie wieder rein und haben gesagt, die Gespräche seien beendet.“

Deiner Meinung nach haben SPD und Grüne keine ernsthaften Gespräche gewollt?

Nein. Die SPD jedenfalls nicht. Unsere Verhandlungsgruppe hat vier Stunden mit SPD und Grünen geredet, dann sind die raus und wollten sich beraten. Nach einer Stunde sind sie dann wieder rein und haben gesagt, die Gespräche seien jetzt beendet. Davor war zweieinhalb Stunden über die DDR geredet worden, und anschließend kamen ja noch die anderen Knackpunkte wie Demokratie- und Regierungsunfähigkeit, etwa, weil wir nicht „garantieren“ konnten, dass unsere Basis nicht vielleicht auf die Straße gehen würde, wenn in einer Regierung Entscheidungen getroffen werden müssten, die ihr nicht passen. Meiner Meinung nach haben sie darauf hingearbeitet, eine Begründung für den Abbruch der Gespräche zu finden, die sie ihrer Basis verkaufen können.

Aber die LINKE ist ernsthaft in das Gespräch gegangen?

Ja, wir sind völlig ergebnisoffen da rein.

Ist das Naivität, oder glaubt ihr tatsächlich, dass sich die SPD soweit bewegen könnte, dass mit ihr eine wirklich andere Politik in NRW möglich wäre? Hat euch der Ausgang der Gespräche tatsächlich ernsthaft überrascht?

Da kann man nicht einfach ja oder nein zu sagen. Wir haben die Einladung zu den Gesprächen erhalten, und dann gesagt, gut, lass’ uns das versuchen. Vor allem auch, weil eine Infratest-Umfrage ausgesagt hat, dass 95% unserer Wähler und Wählerinnen der Auffassung waren, es solle jetzt eine rot-rot-grüne Landesregierung in NRW geben.

Wir haben uns für die Gespräche außerdem ein eindeutiges Mandat bei drei Delegiertenkonferenzen geholt. Und es gab ja auch tatsächlich einige Übereinstimmungen in den Wahlprogrammen.

Was meinst du, welche Absichten die SPD und die Grünen haben könnten, mit euch zu reden, das aber offenbar nur als Theaterstück zu inszenieren?

Das erschließt sich mir auch nicht. Die SPD hätte mit uns eine Vielzahl ihrer Forderungen umsetzen können. Und die Zufriedenheit der Grünen, denen ja mit der gleichzeitig verlesenen Einladung Frau Krafts an die CDU die Regierungsoption abhanden gekommen war, lässt sich eigentlich nur so erklären, dass es eine Absprache gibt, die besagt, dass es nicht zu einer großen Koalition kommen wird. Eigentlich hätte Sylvia Löhrmann ein betretendes Gesicht machen müssen, als Hannelore Kraft gesagt hat „So, das war’s“. Doch stattdessen sind sie Arm in Arm von dannen gegangen. Schlechte Laune war Sylvia Löhrmann jedenfalls nicht anzumerken. Ich vermute, die haben da immer noch die FDP im Blick.

Glaubst du daran, dass hinter dem Scheitern der Gespräche größere Strategien – für den Bund beispielsweise – stecken, oder krepelt tatsächlich immer jeder Landesverband oder jede Gruppe mit kurzfristigen Machtinteressen vor sich hin?

Ich weiß aus sicherer Quelle, dass in der SPD schon vor den Wahlen ein großer Machtkampf getobt hat, bei dem es darum ging, was nach den Wahlen passieren soll. Ich weiß auch, dass es da eine starke Gruppe von Leuten gab und gibt, die rot-rot-grün und eine sozialdemokratischere SPD wollen, dazu gehören zum Beispiel sehr einflussreiche Gewerkschafter, aber es gibt eben auch eine andere, ebenso einflussreiche Gruppe. Das ist diese Altmännerriege um Moron, dem RWE-Aufsichtsrat und RAG-Regionalbeirat, Ex-Finanzminister Steinbrück, und Clement…

Clement?

Doch sicher. Ja sicher gehört der noch zu den Strippenziehern, ebenso wie ein Bodo Hombach. Die ziehen am anderen Ende. Und diesmal haben sie eben kräftig gezogen.

Und die LINKE wartet und wartet? Darauf, dass sich irgendwann mal die anderen durchsetzen?

Ich nehm’s erstmal so, wie es jetzt ist. Ich weiß nicht, ob die, die eine sozialdemokratischere SPD wollen, sich durchsetzen können. Hannelore Kraft gehört nicht zu ihnen. Sie wollte ihrer Basis zeigen, dass man mit uns nicht regieren kann. Denn auch die Basis der SPD erwartet von ihrer Partei eigentlich einen sozialdemokratischeren Kurs. Das haben die sich im Wahlkampf an ihren Infoständen ja auch ständig anhören müssen.

Das war ja der Grund für Hannelore Kraft, sich von den Schröder-Reformen etwas abzusetzen und Fehler einzugestehen. Das hat ihnen am Ende ja auch geholfen. Sie haben ja im Vergleich zu Umfragen einige Monate vor der Wahl Wählerinnen und Wähler zurückgewonnen. Und um diesen Menschen zu zeigen, dass sie es ernst meint, musste sie die Gespräche scheitern lassen, damit sie sagen kann, seht ihr, ich hab’s ja versucht, aber mit denen geht es eben nicht.

Haben die Gespräche denn nicht auch den erwähnten 95% eurer Wähler_innen genauso gezeigt, dass es keine Option auf echte Veränderung mit der SPD und den Grünen gibt? Ist die rot-rot-grüne Perspektive damit jetzt nicht erstmal am Ende? Ist das nicht eine gute Position, entschiedene Opposition zu sein? Wie sehen denn eure ersten Initiativen als Opposition aus?

Wenn es zu einem Regierungsbündnis ohne die LINKE kommt, wonach es ja jetzt aussieht, werden wir als Erstes den Antrag stellen, die Studiengebühren abzuschaffen. Dann werden wir einfach mal sehen. Wenn sie das nicht machen, werden sie sechs Monate später den gleichen Antrag mit veränderten Kommas wieder einreichen und dann wahrscheinlich annehmen – das wäre schließlich nicht das erste Mal… Außerdem haben sie sonst alle sechs Monate die Studenten an der Backe. Was die Regierungsbildung angeht, tippe ich ja, dass die FDP wieder um die Kurve kommt…

…Anna Conrads wird zur RAF-Sympathisantin…

„Da gibt es doch welche, die an dem, was ist, wunderbar verdienen.“

Die Frage ging eher in die Richtung, ob es angesichts der vorherrschenden Krise des Kapitals nicht sowieso überall nur eine Allparteienregierung ohne die Linken geben kann, die solche Maßnahmen wie derzeit in Griechenland gnadenlos durchexerziert. Dass also der Wunsch, innerhalb der bestehenden Machtverhältnisse etwas ändern zu wollen, aussichtslos ist, weil die Dinge in eine ganz andere Richtung gehen?

Das ist so die Theorie wie bei den Hartz-Reformen, dass die CDU sowas nicht mit so geringem gesellschaftlichem Widerstand durchfechten kann wie die SPD…. Ich bin mir aber gar nicht so sicher, welche „Krise des Kapitals“ das eigentlich sein soll? Eigentlich kämpfen zwei Kapitalfraktionen gegeneinander. Die produzierende Wirtschaft ist doch richtig sauer auf die Finanzindustrie. Die beiden Kapitalfraktionen – die der Realwirtschaft und die der Finanzwirtschaft – haben doch kaum noch gemeinsame Interessen. Insofern kann ich an die „Krise des Kapitals“ auch nicht wirklich glauben.

Da gibt es doch welche, die an dem, was ist, wunderbar verdienen. Es ist eben eine normale Krise des Kapitalismus. Wer weiß; wenn sich die Kapitalfraktionen auseinander entwickeln, bekommen wir am Ende noch ganz neue Bündnispartner.

Der BDI als Bündnispartner geht mir aber endgültig zu weit…

Nicht der BDI, aber die Mittelständler/innen. Das gilt doch auch kommunal. Die produzierende und handelnde Wirtschaft hat ja gar kein Interesse daran, dass die Leute sich nichts mehr leisten können oder dass sie die Stadt verlassen. Da setzt sich vielleicht ein anderes Denken durch. Die Mehrheit der Bevölkerung ist doch schon jetzt für die Finanzmarkttransaktionssteuer, für höhere Besteuerung der Reichen usw.

Aber, wo bitte hat sich die Politik in der letzten Zeit denn an dem orientiert, was die Mehrheit der Bevölkerung möchte? Es wird doch schon die ganze Zeit mithilfe von „Notverordnungen“, also mit in wenigen Tagen durchgepeitschten Gesetzen durchregiert – oder, auf kommunaler Ebene: mithilfe von Geheimverträgen bei CBL- und PPP-Geschäften… Das bezeichne ich schon als Krise des Systems…

Aber nicht als Krise des Kapitalismus… vielleicht Krise des Systems Merkel. Das Problem ist nicht, dass es eine Krise gibt, sondern wie sie abgewälzt wird. Und da sind wir wieder bei der Frage, wie sich die SPD bewegen wird.

Womit wir wieder am Ausgangspunkt wären. Gilt das eigentlich deiner Meinung nach auch für die kommunale Haushaltskrise? Hast du da auch Hoffnung auf eine sich bewegende SPD?

Ich denke, dass selbst eine mögliche Regierung von Laschet mit Grünen und FDP jetzt etwas machen würde. Sie haben erkannt, dass sie nicht Kommunen im ganzen Bundesland bankrott gehen lassen können.

Warum haben sie das dann nicht vor der Wahl verkündet? Das hätte ihnen doch genutzt?

Ich glaube, das haben sie sich wegen der Schuldenbremse nicht getraut. Sie erklären das Ganze ja schließlich mit Vehemenz zu einem Generationenproblem. Was es nicht ist. Vielmehr ist es ja das Problem, wer herangezogen wird, das zu bezahlen, was der Staat braucht. Aber nachdem sie das nun immer gepredigt haben, dass das keine Frage von reich und arm, sondern von jung und alt ist, kommen sie da nicht so schnell raus. Das hat vor der Wahl nicht mehr geklappt. Die neue Landesregierung könnte jetzt jedoch damit anfangen,  indem sie erklären, nur mit Sparen ließe sich das alles nicht regeln. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass ausgerechnet die CDU überfällige gesellschaftliche Korrekturen einleitet, siehe zum Beispiel die von der Leyen, die die U3-Betreuung der Kinder durchgesetzt hat. Ausgerechnet!

…und Gunhild Böth wird zur Linksradikalen.

„Mein Briefkasten ist jetzt immer voll mit Lobbyisten-Post.“

Du gehst also davon aus, dass auf Sicht die Dinge in Bewegung geraten. Aber für Wuppertal kommt das dann doch wohl zu spät, wenn der Stadtrat am 12.07. das HSK vielleicht doch noch abnicken würde?

Für Wuppertal wird sehr wichtig sein, was jetzt in Bezug auf die Landesregierung passiert. Ich glaube nicht, dass es sich die Wuppertaler SPD erlauben kann, hier weiter wie bisher mit der CDU Politik zu machen, wenn sich die Landes-SPD insgesamt sozialdemokratischer aufstellt. Je nachdem, wie sich die Landes-SPD verhält, wird sich auch die Wuppertaler SPD verhalten. Zumindest die drei Landtagsabgeodneten der SPD haben ja auch versprochen, sich für einen kommunalen Schuldenfonds stark zu machen. Dann kann ich mir nicht vorstellen, dass sie gleichzeitig hier die Stadt abwürgen. Es tobt ja auch in der hiesigen Sozialdemokratie.

Welche Chancen hat denn der neue Landtag überhaupt, an der kommunalen Krise etwas zu ändern?

An erster Stelle kann das Land NRW eigenes Geld aufwenden. Der Landeshaushalt und die Subventionierungen sind ja nicht sakrosankt. Auch Zustimmungen des Landes im Bundesrat zu bestimmten Gesetzen kann man sich als NRW-Regierung teuer bezahlen lassen, wie man ja des öfteren schon gesehen hat – z.B. was den Verteilungsschlüssel zwischen Bund und Ländern für Steuern angeht. Ohne NRW geht im Bundesrat nichts mehr…

Zurück zu Wuppertal: Wie will die LINKE eigentlich eine Rückkopplung mit der Stadt erreichen? Bislang hat man ja von den Wuppertaler Abgeordneten nach ihrer Wahl recht selten etwas gehört. Jetzt bist du ja auch basta!-Mitstreiterin und in die lokalen Auseinandersetzungen sehr eingebunden gewesen. Wie kannst du mit deiner Partei erreichen, dass du nicht im Orbit „Landtag“ verschwindest, wie so viele vor dir? Schließlich ist es ja auch eine Gelegenheit, sich im Tal und bei den Menschen im Tal zu profilieren, als „unsere Abgeordnete in Düsseldorf“. Wirst du den Kontakt zu Bündnissen wie basta! zukünftig überhaupt halten können?

Wir haben da durchaus einen Plan, wobei „Plan“ sicher zu hochtrabend ist. Erstens basteln wir zur Zeit daran, in Wuppertal ein Büro zu eröffnen, uns also endlich ein Zuhause in der Stadt zu leisten, woran es bisher immer gefehlt hat. Dazu wollen wir das Büro der Ratsfraktion im gleichen Haus haben wie das Parteibüro und meinen zukünftigen Mitarbeiter oder meine zukünftige Mitarbeiterin. Daraus erklärt sich, dass wir in der Nähe des Rathauses nach Räumen suchen. Durch die Nähe der Ratsfraktion zu meinem Büro und zur Partei, werde ich in Bezug auf die kommunalen Dinge immer auf dem Laufenden sein. Und umgekehrt natürlich…

Zweitens werde ich mindestens einen Tag in der Woche auch selber im Tal präsent sein. Dann werde ich in diesem Büro sitzen und natürlich auch den engen Kontakt zu Initiativen und Basisgruppen halten.

Also die klassische „Bürgersprechstunde“?

Nein, keine Bürgersprechstunde, sondern dabei bleiben, wenn was läuft. Ein Bündnis wie basta!, das von sich aus so viele Sachen macht, muss man ja schließlich weiterverfolgen. Da muss man gucken, wo man das jeweils in die Strukturen einspeisen kann, in denen man gerade selber rummangelt. Drittens müssen wir unsere Medienarbeit und unsere Kontaktpflege weiter verbessern. Ich muss informiert werden, was bei den Initiativen passiert und die müssen wissen, was ich tue. Zurzeit hakt das alles daran, dass diese Mitarbeiterfrage geklärt werden muss. Sobald ich da jemanden gefunden habe, geht es los.

Wer rückt für dich eigentlich in den Wuppertaler Stadtrat nach?

Das ist Helin Argav, eine neunzehnjährige Schülerin, die von „solid“ kommt und gerade noch Abitur in Vohwinkel macht, ihr Spezialgebiet ist Bildungspolitik. Sie macht diese Woche ihre letzten Prüfungen. Deshalb konnte ich auch noch nicht zurücktreten.

Abschließend wollten wir dich noch fragen, ob sich nach deiner Wahl eigentlich schon etwas für dich besonders verändert hat – jenseits des Medienhypes?

Ja, mein Briefkasten ist jetzt immer voll mit Lobbyisten-Post. Das ist sofort losgegangen. Das beginnt bei der AOK, geht über die mittelständische Bauwirtschaft und Architektenvereine bis hin zum Bundesverband der deutschen Industrie…

Post to Twitter Post to Delicious Post to Facebook Post to StumbleUpon

3 Kommentare Kommentar schreiben
  1. redaktion sagt:

    Unter nachfolgendem Link kann man einen persönlichen Bericht von Rüdiger Sagel zum Ablauf der Sondierungsgespräche zwischen SPD, Grünen und die LINKE lesen, der mit den folgenden Worten anfängt:

    “Vorausschicken möchte ich, dass es sich um eines der skurrilsten politischen Erlebnisse, während meiner mehr als 30-jährigen politischen Tätigkeit handelt.”


    Der Mauerbau von Düsseldorf von Rüdiger Sagel am 27.05.2010

  2. prad sagt:

    Kritik an Sparplänen

    Der Wuppertaler Sozialdezernent Stefan Kühn kritisiert die aktuellen Sparpläne der Bundesregierung (09.06.10). Betroffen seien nur die Ärmsten der Gesellschaft. Außerdem stellten die geplanten Kürzungen im Sozialbereich ein Millionenschweres Risiko für die Kommunen dar. „Besonders die geplante Beitragsstreichung für die Rentenversicherung der Arbeitslosengeld-II-Empfänger wird die Kommunen in den nächsten Jahren hart treffen“, sagt Stefan Kühn. Denn jeder Euro weniger Rente müsse von den Kommunen über die Grundsicherung später ausgeglichen werden. Die Kürzung bei der Beschäftigungsförderung bedeute allein für die Wuppertaler ARGE pro Jahr etwa fünf Millionen Euro weniger. Die geplante Pauschalierung der Miet- und Nebenkosten unterstützte zudem eine Ghettoisierung in den Sozialen Brennpunkten der Städte. (Reporterin: Rita Jäger )

    WDR

  3. [...] über die Haltung der besagten Abgeordneten bezieht sich allerdings auf eine tendenziöse Panorama-Sendung. In der Vergangenheit hat sich auch gezeigt, dass es bei solchen Abstimmungen nicht um wirkliche [...]

Kommentar schreiben

Du musst eingeloggt sein um zu kommentieren

Soli-Aktion am Donnerstag, den 26.07. in Wuppertal-Elberfeld

"Das ist dein Job? Da ziehe ich es vor, arbeitslos zu sein!"

Das Soli-Komitee Wuppertal ruft für den Nachmittag am nächsten Donnerstag zu einer Protestaktion an der örtlichen Filiale der "Banco Santander" auf – Wall, Wuppertal-Elberfeld, weitere Infos folgen in Kürze.

letzte tweets